Politisch brisant aus alevitischer Perspektive

A.) Im Januar 2018 entschied die Verwaltung des Hilfsvereins „Essener Tafel“ neue Berechtigungen zum Empfang von Lebensmittelspenden nur noch an deutsche Staatsbürger zu vergeben. Wie ist Deine Meinung aus alevitischer Perspektive dazu?


(Ein Kommentar von Ruhan Karakul, Vorsitzende der Alevitischen Landesvertretung Baden-Württemberg e.V.)


„Die Tafeln arbeiten unabhängig von politischen Parteien und Konfessionen. Die Tafeln helfen allen Menschen, die der Hilfe bedürfen.“ – so formuliert es Grundsatz 4 des Bundesverbandes Deutsche Tafel. In einem der reichsten Länder der Welt sind immerhin 1,5 Mio. Menschen auf Lebensmittel der Tafel angewiesen. Festgestellt sei, dass Tafel-Helfer_innen den größten Respekt verdienen, denn dort, wo der Staat versagt, versuchen sie Bedürftigen zu helfen. Sie sind es, die die Lebensmittel sammeln, sortieren und verteilen. Dabei ist die Sicherung des Existenzminimums originäre Aufgabe des Sozialstaates und darf nicht auf gemeinnützige Organisationen abgewälzt werden. Der Staat muss die Existenz von Armut anerkennen und effektive Maßnahmen ergreifen. Wir müssen darüber diskutieren, dass Bezieher_innen von Hartz IV eine reelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht möglich ist. Wir müssen über Alters- und Kinderarmut diskutieren. Wir müssen darüber reden, dass Menschen trotz Vollzeitarbeit immer noch auf Transferleistungen angewiesen sind. Das Thema Armut betrifft die Bundesrepublik Deutschland nicht erst seit der sog. „Flüchtlingskrise“. Neu zugewanderte Menschen sind gleichermaßen Opfer einer verfehlten, zu optimierenden Sozialpolitik, wie die bereits hier lebenden Menschen. Schutzsuchende Menschen sind darüber hinaus mit einer diskriminierenden Sonderbehandlung konfrontiert, wenn sie Zugang zu Sozialleistungen erhalten wollen. Der Blick ins Asylbewerberleistungsgesetz lässt unschwer erkennen, dass es ein Sonderregime für Asylsuchende darstellt. Durch das „Sachleistungsprinzip“ (Erhalt von Wertgutscheinen oder Lebensmittelpaketen) und der Möglichkeit, die ohnehin geringen Leistungen mit der Behauptung, die Person sei nur deshalb nach Deutschland geflohen, um Leistungen zu beziehen, einschränken zu können, wird den Menschen zum einen das Recht genommen, sich selbstbestimmt ernähren und versorgen zu können, zum anderen werden sie der Gefahr ausgesetzt, mit stark reduzierten Leistungen ihr Leben bestreiten zu müssen. Verwundert es dann noch, dass der Andrang auf die Tafel so groß ist? Wer, wenn nicht Helfende einer Tafel könnten diese Probleme erkennen, benennen und sozialpolitische Forderungen formulieren?

Dass die Essener Tafel stattdessen entschieden hat, Berechtigungen zum Empfang von Lebensmitteln vorübergehend nur noch für Bürger_innen mit deutschem Ausweis auszustellen, hat einen rassistischen Beigeschmack und dokumentiert erneut, dass wir als Gesellschaft schnell dazu geneigt sind, bestehende, immer sichtbarer werdende Probleme den bei uns Schutz suchenden Menschen zuzuschreiben. Gerade wir Alevit_innen, die auf eine Geschichte von Verfolgung und Diskriminierung zurückblicken, sollten Position gegen den Populismus, der sich gegen Asylsuchende wendet, beziehen.




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B.) Der Talkshows Lieblingsthema in diesen Monaten und auch wir machen keinen Bogen darum! Wie bewertest Du die Debatte Migration / Fluchtbewegung nach Europa aus alevitischer Perspektive?

(Ein Kommentar von Ufuk Çakır, Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschland - AABF)

„Vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber dies ist unsere Zeit“, hat Jean-Paul Sartre gesagt.

Die Geschichte der Alevit_innen in der Türkei ist von einer gesellschaftlichen und auch institutionellen Unterdrückungskultur geprägt. Repressionen sind in der Türkei auch heute noch an der Tagesordnung. Mehrere Alevitische Glaubenszentren wurden vor kurzer Zeit verboten und zahlreiche Verbandsvertreter_innen inhaftiert. Wir wissen, dass Alevit_innen und Menschenrechtler_innen insgesamt immer stärker staatlicher Verfolgung ausgesetzt sind. Menschenrechtsaktivist_innen und deren Anwält_innen werden bedroht und eingeschüchtert. Vor einigen Wochen wurde der aktuelle Report der Menschenrechts-Organisation Amnesty International veröffentlicht. Dort heißt es: „Was wir derzeit erleben ist noch einmal eine neue Qualität der Repression in der Türkei. Es wird nicht nur punktuell, sondern systematisch gegen jegliche Kritiker vorgegangen.“

Ganz anders in Deutschland. Denn hier gilt das Recht auf Meinungsfreiheit und auch auf Religionsausübung zu den vornehmsten Menschenrechten. Ein Meilenstein für das Alevitentum ist, dass in unserer Bunderepublik unser Glaube in freiheitlicher Demokratie die würdige tatsächliche und auch rechtliche Anerkennung genießt. Eine Anerkennung als eigenverantwortliche und eigenständige Religionsgemeinschaft; ganz im Sinne unseres Grundgesetzes.

Die Stimme der Humanität in diesem Land scheint nach alledem hörbar zu sein. Aber sind die Stimmen der Inhumanität nicht lauter geworden? Es stellt sich die Frage, ob gegen Migrant_innen in dieser unserer Bundesrepublik schon einmal so viel gepöbelt worden ist wie heute? Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sitzt mit der AfD eine politische Bewegung im Bundestag, die rassistische Werte auslebt. „Es gibt jedoch eine Pflicht zur Zuversicht“, hat Kant einmal gesagt. Da hat er auch heute noch recht.

Gerade in schwierigen Zeiten eine gewisse Pflicht zur Zuversicht, da z.B. Alevit_innen als eine Glaubensgemeinschaft sich mit der Zukunft der Demokratie dieses Landes auseinandersetzen. Sich dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft in der Bunderepublik frei und offen bleibt. Denn der Alevitische Glaube lebt von der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit der Person, der Gleichheit der Menschen und der Freizügigkeit. Und auch Europa lebt davon, dass es die Menschenwürde schützt.

Mit der Aussage „wir schaffen das“ entstand zeitweise Hoffnung für zigtausende Flüchtlinge. Jedoch folgte keine durchdachte und nachhaltige Flüchtlingspolitik. Es entstand aufgrund mangelnder sachlicher Auseinandersetzung der Politik mit diesem für die Demokratie so wichtigem Thema Angst in der Gesellschaft. Der Deal mit der Türkei zeigt insbesondere, dass die gegenwärtige Flüchtlingspolitik nicht einmal ansatzweise das Recht auf Freizügigkeit verinnerlicht hat. Solidarität in schwierigen Zeiten sieht anders aus.

Und trotzdem gibt es eine Pflicht zur Zuversicht.