Meine Kindheit, Madımak und mein Bruder Serkan
[Serdar Doğan]
Unsere Kindheit verging im Stadtteil Keçiören in Ankara...
Die Mandelbäume, Brücken und einige wenige kleine Schwimmbäder waren die Begleiter unserer unvergesslichen Kindheit. Während wir die Kindheit hinter uns ließen und uns aufmachten pubertierende Jugendliche zu werden, waren Drachen, Murmeln, Steinschleudern und der Fußball unsere Wegbegleiter. Auch andere Themen diskutierten wir eifrig mit den Lausbuben unserer Nachbarschaft… In den Schulferien im Sommer fingen unsere Freunde an einen der Korankurse zu besuchen; bewaffnet mit Steinschleudern, die an die Holzbalken einer Baustelle angebracht wurden und mit Beharrlichkeit, riefen sie uns auch zu sich; dabei kannte weder ich, noch mein Bruder Serkan den Koran…
Am Abend erzählten wir unserem Vater davon, schwiegen dann aber wieder, nachdem er mit uns schimpfte: „Was denn für ein Korankurs, bleibt an eurem Platz sitzen!“… Einige Jahre später war es so weit, dass unsere frechen und religiösen Freunde an Freitagen kein Moscheegebet mehr ausließen; immer verknüpft mit der Einladung an uns, dass wir doch auch dabei sein sollten. Dabei waren wir genau mit den gleichen Freunden noch einige Jahre zuvor in die Moscheen geschlichen, um uns Schuhe „auszuleihen“. Nicht etwa um diese selber zu tragen, sondern weil man das beste Material für Steinschleudern aus Lederschuhen gewinnen konnte… so bekamen Steine den nötigen halt…
Der Hodscha der Moschee hatte uns eines der Bücher mitgegeben… So schlossen wir uns manchmal im Badezimmer ein und versuchten im Geheimen daraus zu lesen. Als es mit der Aussprache der Suren nicht klappen wollte, ob nun eine Sünde hin oder her, zerrissen wir das Buch einfach… Damals wussten wir noch nicht, dass auch schon auf unsere Mutter Druck ausgeübt wurde. Warum denn beim nächtlichen Essen vor Fastenbeginn in unsere Küche kein Licht brenne und warum sie nicht an den religiösen Gesangsabenden und an der öffentlichen Rezitation des Korans teilnehme… Die wilden Paukenschläge des Ramadan-Trommlers, der in jeder Nacht vor unserem Fenster sein Werk verrichtete, war kein Ständchen, sondern eine Art von Drohung. Wir begriffen das erst Jahre später…
Der Schnurrbart meines Vaters war damals schier einen Kilo schwer… Er ähnelte auch nicht denjenigen der anderen Väter der Nachbarschaft, deren Bärte nahezu einen Halbmond bildeten… vielmehr ähnelte er dem Bart von Stalin, den ich erst Jahre später aus Büchern kennenlernte… Zum Ende der Mittelschule hin, fing der Geschichtslehrer, mit dem Hintergedanken, dass man als Mensch aus Tunceli Kurde ist, an, bei allen Themen die Kurdenproblematik betreffend mich als Anschauungsobjekt zur Schau zu stellen… bei jedem seiner Exempel auf meine Kosten wurde mir klarer, dass wir anders waren…
Mit jedem Tag und jeder Konfrontation damit, dass wir weder türkisch noch islamisch waren, wurde das Leben einen Ticken gefährlicher und wir zogen um, als würden wir flüchten, aus Keçiören ging es nach Dikmen, dahin wo es mehr Menschen wie uns gab und wo man wieder glücklich sein konnte…
Nur wenige Monate später wurde Pir Sultan Abdal, den wir nur aus den Volksliedern kannten, unser neuer Nachbar… Zwei Wohnblocks weiter, wurde nämlich ein Verein zu Ehren Pir Sultan Abdals eröffnet und wir betraten das Vereinshaus, als würde es uns möglich sein, den Pir persönlich kennenzulernen. Wie schön wir doch empfangen wurden, mit brühend heißem und starkem Tee und ebenso schönen Gesprächen. In diesem Augenblick wurden wir zu Anhängern Pir Sultans… Am Abend, als wir unserem Vater davon erzählten freute er sich sehr: „Natürlich sollt ihr dahingehen!“… Wir freuten uns… Ich meldete mich für einen Kurs an, um Bağlama zu lernen. Die Ausbildung dauerte 6 Monate, doch ich konnte es einfach nicht erlernen… Serkan, der am Kurs nicht teilnahm, erlernte das Instrument von selber und die Sprache der Bağlama wurde sein Wegbegleiter… Wie besessen beobachtete er „seine großen Meister“, einer davon war Hasret Gültekin, von jedem schaute er sich etwas ab und war täglich „ein Plektrum weiter“… Ich hingegen, der mit der Saz Schwierigkeiten hatte, meldete mich beim Semahkurs an, Serkan folgte mir später. Mittlerweile spielte er also sowohl Saz und tanzte auch wie ein Kranich den Semah. Folglich nahm die neue Theatergruppe ihn direkt als Mitglied auf. Mir hingegen fehlte es an Selbstbewusstsein und Begabung…
Sie spielten das Theaterstück Pir Sultan des bekannten Autors Erol Toy… Serkan spielte Ali Baba, den Freund und Wegbegleiter Pir Sultans (musahip)… “nun steinige ihn auch, sonst köpfen wir dich!“ hallte es in einer Szene und zum Trotz warf er seinem Pir Rosen zu. Dass diese härter noch als Steine sind merkte er erst als der Pir zusammenbrach und „Es schmerzt“ schrie… Es war nur ein Stück und doch weinte er nach jeder Rose…
In der Kindheit hatten wir mit unserer damals stärksten Waffe, der Steinschleuder, vielen Vögeln Schmerzen zugeführt… Längst hatten wir damit aufgehört, doch manchmal nahmen wir den Kleinen aus der Nachbarschaft die Schleudern weg und zielten wieder darauf los…
Eines Tages brachte unser Vater einen Film mit nach Hause, der das Leben des Hünkar Haci Bektaş zeigte. Wir sahen ihn uns an. Der Pir war doch tatsächlich in der Gestalt einer Taube bis nach Nevşehir gekommen... Verwundert sahen wir uns an, unsere Blicke waren wie versteinert und wir wurden wütend auf uns selbst. Uns war als hätten wir mit unseren Schleudern direkt auf Hacı Bektaş gezielt... Wie traurig wir doch an diesem Abend waren, kann ich kaum beschreiben; zur Wiedergutmachung fütterten wir jahrelang Tauben… Die Tauben mit farbigen Federn, die Purzelbäume schlagen, die fütterten wir…
Serkan sammelte in vielen Vierteln und auf dutzenden von Dächern die Tauben für uns ein, damit wir uns um sie kümmern konnten… Serkan war einer von denen, die wie in der Gestalt einer Taube in Sivas ankamen; um die Rolle des Ali Baba zu spielen, der seinen Pir mit Rosen bewarf und um Semah zu tanzen. Wie Bussarde stürzten sie sich dort auf ihn. Tonnen von Steinen warfen sie auf sein Herz, das selber nur eine Rose werfen konnte. Sie kannten kein Erbarmen. Es waren diejenigen, die mit dem Koran unter dem Arm vom Freitagsgebet kamen…sie verbrannten ihn. Dabei hatte mein Vater immer versucht uns von Korankursen und Freitagsgebeten fern zu halten, damit sie uns nicht schadeten…
Ich erinnere mich noch an eine andere Geschichte: Wir gingen auf das Gymnasium und Serkan fragte: „Abi (türk. für „großer Bruder“), wenn du die Möglichkeit hättest, wärst du lieber ein Astronaut im Weltall oder aber ein Fisch, der in den Ozean taucht?“ Ich antwortete: „Weltall“… „In dem Weltall würde ich wollen“… Er antwortete: „Mensch was willst du denn dort in der Dunkelheit, dort siehst du doch nichts. Höchstens die Welt in der Größe eines Fußballes, aber nicht mehr… Aber im Wasser ist das anders: Das blaue Wasser, kunterbunte Fischer, die Pflanzen… Hätte ich die Gelegenheit, so würde ich lieber in den Ozean eintauchen wollen.“ Eintauchen in das kühle und blaue Wasser… Später legte er sich ein riesengroßes Aquarium zu, mit vielen farbigen Fischen darin – stundenlang kümmerte er sich um sie… Wasser, war das Subjekt seines größten Traumes… Es war sein Traum, ohne zu wissen, dass er eines Tages in Sivas noch bitterer als diejenigen in Kerbela sich nach einem Tropfen davon sehnen sollte…
Was soll ich lügen, ich war schon immer neidisch auf dich…
Darauf, dass du lange vor mir Bağlama spielen konntest,
Darauf, dass du wie ein Kranich Semah tanztest
Auf dein blaues , dein Halunken-, dein Kinderlachen,
Auf deine felsenfesten Überzeugungen,
Immer beneidet habe ich, deine Geduld und deine Liebe, wie die des Yunus,
Und sehr böse war ich darauf, dass du mich verlassen hast und gingst, dass du vor mir gestorben bist…
Deine Eile, wie die einer Schwalbe habe ich nicht verstanden;
Aber glaub mir, meine Bruderherz, am meisten beneidete ich dich um deinen Tod…
Was soll ich nun mehr sagen;
Der Mond kreist umher, oh weh! Mein armes Herz
Der Tod, er verfehlte sein Ziel…
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Das Gedicht auf Türkisch:
Ne yalan söyleyeyim; hep kıskandım seni…
Benden önce bağlama çalışını,
Turnalar gibi semah dönüşünü
Mavi, serseri, çocuk gülüşünü,
Dimdik duruşunu,
O, Yunus sabrını ve sevgini hep kıskandım…
Ve çok kızdım beni bırakıp gidişine, benden önce ölüşüne…
Anlamadım ya kırlangıç telaşını;
Ama inan ki, iki gözüm; en çokta ölümünü kıskandım…
Ne diyeyim;
Ay dolandı vay deli gönlüm
Ölüm şaşırdı menzilini…
Serdar Doğan
(Übersetzung: Serdar Akın)