„Handelt menschlich meine Kinder!“ - Eine Kurzgeschichte von Aziz Nesin
[Aziz Nesin] Mutter Ameise und Vater Ameise hatten ihre Kinder um sich versammelt und gaben ihnen Unterricht in Ameisenkunde. Der Vater beendete den Unterricht mit folgenden Worten: „Meine Kinder! Versucht in eurem Leben stets wie Ameisen zu handeln! Weicht niemals vom Pfad der Ameise ab.“
Die Kinder fragten nach: „Aber wie wird man denn eine Ameise? Was sind die Regeln des Ameiseseins?“ Der Vater antwortete: „Nehmt euch eure Eltern einfach als Vorbild. Macht das, was wir auch machen!“ Die Ameisenkinder nahmen sich den Vater und die Mutter zum Vorbild. Sie machten eben dies, was die Eltern auch taten. Im Sommer sammelten sie die Nahrung und vergruben alles unter der Erde. Im Winter schliefen sie. Als die Zeit dafür gekommen war legten sie ihre Eier.
Schließlich versammelten Vater und Mutter Ameise ihre Kinder wieder um sich herum. Vater Ameise hielt eine Ansprache. „Meine Kinder!“ begann er. „Ich werde bald sterben. Ich bin mit euch allen zufrieden. Ihr habt euch alle wie Ameisen verhalten. Keiner von euch hat sich vom Pfad der Ameisen gelöst. Ich erhebe keinen Anspruch mehr auf euch. Gott segne euch.“
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Vater und Mutter Fisch hatten ihre Kinder um sich versammelt und gaben ihnen Unterricht in Fischkunde. Vater Fisch beendete den Unterricht mit folgenden Worten: „Meine Kinder! Versucht in eurem Leben stets wie Fische zu handeln. Weicht niemals vom Pfad des Fisches ab.“ Die Kinder fragten neugierig: „Wie wird man denn ein Fisch? Was sind die Regeln des Fischseins?“ Vater Fisch sprach: „Nehmt uns als Beispiel. Verhaltet euch so, wie ihr es bei mir und eurer Mutter seht!“ Die Kinder beobachteten Mutter und Vater Fisch und taten genau dies, was diese auch taten. Sie schwammen im Meer. Sie fraßen die kleineren Fische und wurden von den größeren gefressen. Sie legten Eier und vermehrten sich.
Wieder versammelten Vater und Mutter Fisch sie um sich herum. Vater Fisch sprach: „Meine Kinder, nun seid ihr erwachsen geworden. Wir können in Ruhe sterben. Wir sind mit euch allen zufrieden. Aus euch allen sind wahrhaftige Fische geworden. Keiner von euch ist sich vom Pfad des Fisches gewichen. Unsere Mühe hat sich ausgezahlt. Ich erhebe keinen Anspruch mehr auf euch. Gott segne euch.“ Die Kinder antworteten: „Aber wir haben doch nicht viel gemacht, sondern nur das, was wir bei euch gesehen haben…“
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Vater und Mutter Ente hatten ihre Kinder um sich versammelt und gaben ihnen Unterricht in Entenkunde. Vater Ente beendete den Unterricht mit folgenden Worten: „Meine Kinder! Versucht im Leben stets wie Enten zu handeln. Weicht niemals vom Pfad der Ente ab.“
Die Kinder fragten nach: „Wie sollen wir es denn anstellen und wahrhaftige Enten werden? Was sind die Regeln dafür?“ Vater Ente sprach: „Dies ist ganz einfach. Nehmt uns als Vorbild. Was eure Mutter und euer Vater machen, so macht dies auch!“
Die Entenkinder befolgten dies und handelten stets so, wie sie es von ihren Eltern sahen. Sie quakten vor sich hin. Sie schwammen im Wasser und gingen auf dem Land. Sie paarten sich. Sie legten Eier, brüteten diese aus und neue Küken wurden geboren. Wieder versammelten Vater und Mutter Ente die Kinder um sich herum.
Der Vater sprach: „Meine Kinder! Nun seid ihr erwachsen. Aus euch allen sind gute Enten geworden. Keiner von euch hat den Weg des Entenseins verlassen. Unsere Mühen haben sich ausgezahlt. Wir erheben keinen Anspruch mehr auf euch. Gott segne euch.“
Die Kinder erwiderten: „Wir haben doch nicht viel gemacht. Wir haben euch nur zugesehen und haben genau dies gemacht, was ihr auch gemacht habt.“
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Vater und Mutter Hund hatten ihre Kinder um sich herum versammelt und gaben ihnen Unterricht in Hundekunde. Vater Hund beendete den Unterricht mit den folgenden Worten: „Meine Kinder! Versucht im Leben Hunde zu werden. Weicht nie vom Weg des Hundes ab.“ Die Kinder fragten nach: „Wie sollen wir es denn anstellen und Hunde werden? Was sind die Wege des Hundseins?“ Vater Hund sprach: „Das ist ganz einfach. Nehmt uns als Vorbild. Macht genau das, was eure Mutter und ich auch machen.“
Die Hundekinder beobachteten den Vater und die Mutter. Sie verhielten sich genauso, wie sie es von ihren Eltern gesehen hatten. Sie bellten. Sie hielten Wache. Sie waren treu. Sie paarten sich und bekamen Kinder.
Wieder versammelten die Eltern ihre Kinder um sich herum. Vater Hund sprach: „Meine Kinder! Nun seid ihr erwachsen. Aus euch sind wahre Hunde geworden. Wir werden bald sterben. Wir sind mit euch allen zufrieden. Ihr seid nie vom Weg des Hundes gewichen. Unsere Mühen haben sich ausgezahlt. Wir erheben keinen Anspruch mehr auf euch. Gott segne euch.“
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Das Rind, der Büffel, die Sardelle, der Wal, das Kamel, der Elefant, die Schlange, das Schaf und alle anderen Elterntiere auf der Welt sprachen zu ihren Kindern, dass sie so werden sollten, wie sie selbst, in dem sie sich verhielten wie sie selbst. Die Kinder nahmen sich Vater und Mutter zum Vorbild und wurden so zu guten Tieren. Im Sterben schließlich drückten die Eltern ihre Zufriedenheit aus und erhoben keinen Anspruch mehr auf sie.
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Vater und Mutter Mensch hatten ihre Kinder um sich versammelt und gaben ihnen Unterricht in Menschenkunde. Der Vater Mensch beendete seinen Unterricht mit folgenden Worten: „Meine Kinder! Versucht in eurem Leben immer menschlich zu handeln und weicht niemals von den Tugenden des Menschseins ab.“ Die Kinder erkundigten sich: „Aber wie wird man denn ein wahrhaftiger Mensch? Was sind die Wege zur Menschlichkeit?“ Der Vater antwortete: „Das ist ganz einfach. Nehmt uns als Vorbild. Verhaltet euch genauso, wie es eure Mutter und ich auch machen!“
Die Kinder betrachteten Mutter und Vater Mensch und verhielten sich ebenso wie diese auch. Am Ende ähnelten alle ihrem Vater…
Vater und Mutter Mensch versammelten ihre Kinder wieder um sich herum. Vater Mensch schrie sie an: „Schande über euch! Keiner von euch ist so geworden, wie wir es wollten. Keiner von euch ist ein wahrhaftiger Mensch geworden. Ihr seid alle sehr weit von der Menschlichkeit entfernt. Ihr seid vom Weg der Menschlichkeit gewichen. Wir sterben nun. Schade um alle unsere Mühen, sie waren vergebens. Zum Teufel mit euch!“
Die Kinder wunderten sich: „Warum verflucht ihr uns? Haben wir etwa falsch gehandelt… Wir nahmen uns euch zum Vorbild. Wir taten das, was ihr auch gemacht habt…“
(Übersetzung: Serdar Akın)