Aleviten und die Heiligkeit der Natur in ihrem Glauben

Der alevitische Glaube bietet den Aleviten in den Regionen, in denen sie leben (Sivas, Dersim, Erzincan, Malatya sowie am Mittelmeerraum wie in Antalya u.a.) durch Pilgerorte, die als heilig wahrgenommen werden, einen Halt im Leben. Die meisten dieser Orte liegen mitten in der Natur und sind zum Teil mit denjenigen personifiziert, die den Glauben verbreitet haben und heiliggesprochen worden sind. Beispiele dafür sind Düzgün Baba (Person und Berg, vereint in einem) oder Munzur Baba, ein Fluss, der den Namen eines Hirten trägt, der heilig gesprochen wurde. Ein Pilgerort wie Gole Çetu (heiliger See, ein Treffpunkt zweier Flüsse) hat in Dersim eine überregionale Bedeutung. Im alevitischen Glauben wurden auch Frauen heilig gesprochen, nach denen heilige Orte benannt wurden, wie Ana Fatma, ein Brunnen an einem Berghang am Ufer des Flusses Munzur. Solche Beispiele findet man auch in anderen Orten außerhalb der Region Dersim, wie z.B. in Antalya Abdal Musa Sultan Dergahı (Antalya, Elmalı, Tekke Köyü) und Koca Leşker Ocağı (Erzincan, Bağıştaş). Bei dem Glauben der Aleviten bilden Natur, Mensch und Lebewesen eine Einheit des kosmischen Lebens.


In den Herkunftsregionen der Aleviten in der Türkei werden die Liebe und die Achtung zur Natur von Generation zu Generation weitergegeben, indem die Kinder von klein an mit zu heiligen Orten mitgenommen werden und bei den Cem-Zeremonien als Teil der Gemeinde gesehen werden. Dadurch wird die Nachhaltigkeit gesichert, indem die Kinder die Werte des alevitischen Glaubens lernen, wie die Tradition gelebt wird, die sie miterleben und leben. Die Werte wie Liebe zur Natur, Heiligkeit der Natur und Respekt vor der Natur sind tief in der alevitischen Tradition verankert, die wiederum bei der Erziehung der Kinder eine gewichtige Rolle spielt.


In Deutschland sowie anderswo in der Diaspora geborene und heranwachsene Jugendliche haben kaum Berührungspunkte zur Natur. Es gibt keine heiligen Plätze, die die Jugendlichen ansprechen, wie es in den Herkunftsregionen ihrer Eltern der Fall ist, wenn auch die Eltern die Natur sehr schätzen. Die hier geborene Generation erlebt auch einen Werteverlust, der bei den Jugendlichen mitunter zu negativen Verhaltensweisen führt.


Dabei spielen städtische Strukturen auch eine bestimmende Rolle. Dies führt zugleich zu einem Identitätsverlust. Man hat keinen Halt im Leben wie in den Herkunftsregionen, aus denen die Großeltern und Eltern stammen.


In meinem Roman beschreibe ich den Fluss Munzur: »Der Fluss meiner Träume« ist nicht nur ein Fluss, es ist mehr als ein fließendes Wasser. Es ist eine Geschichte, eine Geschichte von Menschen, die es seit Beginn der Menschheit gibt, die noch von einer friedlichen Welt träumen. Der Fluss verkörpert eine Region, die in Liedern besungen wird, eine Kultur, eine Sprache, die trotz Unterdrückung, Genozid, Ausplünderung und Zerstörung am Leben geblieben ist.


»Der Fluss meiner Träume« ist Poesie, Prosa, durch welche die Tränen der unzähligen Mütter in die fernen, fremden Länder getragen wurden. »Der Fluss meiner Träume« ist zugleich die Geschichte des Flusses Munzur, der die Quelle der Lebenskraft der Menschen der Region Dersim war und ist. Der Fluss Munzur ist ein lebendiger Zeitzeuge der Geschichte, der uns die Wahrheit über die Vergangenheit erzählt.


»Der Fluss meiner Träume« ist kein Traum, es ist die Realität seiner Kindheit und Jugend, die den Wanderer geprägt hat.


Der Wanderer, der sich mit dem Fluss identifiziert, erzählt nicht nur seine Geschichte, sondern die Geschichte der Menschen aus der Region. Der Fluss ist die Sehnsucht, nach deren Erfüllung er sucht, eine Sehnsucht nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker. Der Fluss ist ein Ort, zu dem jedes Jahr Tausende von Menschen pilgern, um ihm ihre Wünsche vorzutragen, in dem Glauben, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Frauen lassen weinend ihre Tränen in seinen Gewässern, damit er ihren Kummer in die Ferne trägt. Junge unfruchtbare Frauen gehen hin, um Kinder gebären zu können. Eltern opfern Tiere, damit ihre Söhne und Töchter erfolgreich werden. »Der Fluss meiner Träume« ist ein Symbol des Widerstandes, der in den Sehnsüchten der Menschen lebt. Der Fluss ist auch eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit, danach strebt der Wanderer. Der Fluss ist seine Lebenskraft in der Fremde, der ihm zugleich eine neue Orientierung gegeben hat, egal wo er lebt, dort Wurzeln zu schlagen, um ein neues Zuhause zu finden. Der Fluss ist Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Der Fluss ist seine unvollendete Geschichte, die weiter geht in seiner Dichtung. »Der Fluss meiner Träume« ist eine Legende, in der sich Tausende von Menschen heute wieder finden.“


Dieser Textabschnitt macht deutlich, welche Rolle ein Fluss bei der Geschichte und dem Glauben der Aleviten spielen kann.


Die Frage ist, ob auch in der Diaspora Orte gefunden werden, an denen die Aleviten sich orientieren können. Es ist eine Frage der Zeit. Die Legenden werden erfunden, um eine Orientierung und Identität sowie einen Halt im Leben zu erstreben. Es werden Geschichten erzählt, dass die MigrantInnen alevitischen Glaubens der ersten Generation parallele Naturorte suchen, um sich zu besinnen. Eine Wasserquelle in einem Wald, an der die Glaubenden ihre Wünsche äußern und um Vergebung für ihre Fehler bitten (eine Art „Sündenbekenntnis“), könnte als heilig wahrgenommen werden.


Einer der größten alevitischen Gelehrten, Pir Hacı Bektaş Veli, schreibt in einem Gedicht:


„Was du suchst, suche in dir
die schöpferische Kraft ist weder in Mekka noch in Jerusalem. Andere haben die Kaaba, meine Kaaba ist der Mensch“.


Wie Pir Hacı Bektaş Veli in seinem Gedicht die Bedeutung der Menschen bei der Ausübung ihres Glaubens erklärt, ist für die Aleviten jeder Ort ein heiliger
Pilgerort. Denn der Mensch ist selber heilig. Wenn es so ist, kann der Mensch auch in der Fremde sich neue Pilgerorte suchen und finden. Dafür braucht er Zeit, wie aus einem meiner Gedichte hervorgeht:


Ein Traum - Drei Bäume


Im Traum bekam meine Ur-Großmutter
drei Sprösslinge vom heiligen Sultan Baba,
Sie pflanzte sie in ihren Garten des Lebens.
Aus einem Sprössling wurde ein Nussbaum,
aus dem anderen ein Maulbeerbaum,

aus dem Dritten wurde ein Apfelbaum.


Der heilige Sultan Baba sprach in ihrem Traum,
verkündete ihr die Liebe,

die Gerechtigkeit und den Respekt,

und sie hörte:


Der Nussbaum ist zum Andenken an deine Familie,
die der Gewalt zum Opfer gefallen ist.

Nur sie überlebte mit ihrem jüngsten Sohn.

Um ihren Sohn vor der Gewalt zu retten,
flüchtete sie in die Fremde,

wo der heilige Sultan Baba lebte.


Wenn du Sehnsucht nach deiner Familie bekommst,
schlaf unter dem Schatten des Nussbaumes.

Du wirst deine Einsamkeit mit deiner Familie teilen.
Sie werden dir Wegweiser deines Lebens sein.


Der zweite Sprössling

wird die Zukunft deines Sohnes werden.


Er wird dir viele Kinder schenken,

und seine Kinder werden von hier wegziehen,
um sich in der Fremde niederzulassen.

Unser Dorf wird ihnen zu klein werden.


Wie Sultan Baba voraussah,

die Fremde wurde uns ein Zuhause.

Wenn du in die Zukunft schauen willst,
schlafe im Schatten des Maulbeerbaumes.
Da vergisst du die Vergangenheit.


Die Zukunft öffnet sich wie ein blauer Himmel,

in dem du die Sterne deiner Enkelkinder erblicken kannst
in voller Sehnsucht.


Der dritte Baum ist ein Zeichen des Friedens,

der in deinem Herzen das Licht der Geborgenheit
und der Ruhe zum Keimen bringen wird.


Wenn du dich nach Gerechtigkeit und Frieden sehnst,
schlafe unter dem Schatten des Apfelbaumes.

In deinem Traum wirst du Wut
und Rache in deinem Herzen gegen die Herrscher
dieser Welt besänftigen.

Denn das Böse wird nie über die Gerechtigkeit siegen.
Der Sultan Baba fügte hinzu:
Diejenigen,
die in ihrem Herzen Liebe säen,

werden Gerechtigkeit auf der Erde verbreiten.

Meine Ur-Großmutter
pflanzte drei Sprösslinge,

sie wurden Bäume des Lebens.


Nun schlafen wir im Schatten dieser drei Bäume.

Sie sind in unseren Träumen.

Aus den Wurzeln dieser Bäume wuchs unsere Familie
wie die Äste in den Himmel hinauf.


„Der Fluss meiner Träume“, Free Pen Verlag Bonn 2008.

(Der Heilige Sultan Baba war ein alevitischer Priester im Dorf Mulu (Milli).
Im Dorf gibt es heute eine Pilgerstätte, die seinen Namen trägt.
Sie wird von Menschen alevitischen Glaubens besucht.)